Die Wüste und der wilde Westen im Wohnzimmer
Der Standard /2001
Der nachhaltigste Betrug des für fünf Jahre wegen Hochstapelei inhaftierten Karl May sei es gewesen, Schriftsteller zu werden. Der große Coup eines kleinen Erzgebirglers, über den Ernst Bloch bemerkte : “Fast alles ist nach außen gebrachter Traum der unterdrückten Kreatur, die grosses Leben haben will.”
Seit über zehn Jahren setzt sich der wie May aus Sachsen stammende Schauspieler Dietmar Mues mit Leben und Werk des Phantasten und Vielschreibers auseinander. “Träume, Tod und Filzpantoffeln” sind das Ergebnis – und derzeit erstmals in Wien zu genießen.
Inmitten des wüsten Durcheinanders in einem miefigen Wohnzimmerchen lässt er den virtuellen Weltenbummler lebendig werden : das Sofa wird zum rasanten Rappen, eine Scheibtruhe voll Sand symbolisiert, nein, ist die Wüste. Zur Verkörperung dessen Sohns genügen Mues ein Hand- und ein Leintuch. Und auf dem Bottich für die Kochwäsche steht “Nil”. Darin genug Wasser, um die bis zu 20 Seiten langen Tauchgänge des Kara Ben Nemsi kopfüber nachzustellen.
Die augenzwinkernde Ironisierung ist Prinzip. Mit literarischer Ernsthaftigkeit ist einem Autor kaum beizukommen, dessen Helden und Abenteuer aus heutiger Sicht ein kräftiger Hauch Skurrilität und Naivität umweht. Mit einem spontan intonierten Walzer einen orientalischen Harem in Ekstase zu versetzen, muss einem erst einmal einfallen. Mues analysiert die jeder noch so wilden Horde überlegene Kampftechnik von “Charlys” Heroen, extrahiert Mays eigentümliches Frauenbild – “ein Klappmaul wie eine schwarzlederne Reistasche” – und ortet vor allem in den zahlreichen Passagen, in denen die Protagonisten fremdsprachig kauderwelschen “Texte von fast Jandl’scher Absurdität”.
Wenn zu guter Letzt der edle Indianerhäuptling am Sterbebett zum Christentum konvertiert, malt sich Mues weiße Streifen ins Gesicht: Clown- und Kriegsbemalung in Einem.
Der in Deutschland bereits seit Ende der 80‘er anhaltende Erfolg dieser kritisch-amüsanten Karl-May-Collage beruht nicht zuletzt auf der schweißtreibenden Intensität, mit der ihn Mues facettenreich und pointiert auf die Bühne bringt. Die spielerische Miteinbeziehung des Publikums wurde bei der Premiere zu einem Quiz für Kenner. Schließlich saß die heimische Karl-May-Gesellschaft geschlossen im Saal, um mitzuerleben, wie Mues mit May ins Gericht geht: Freispruch und Hochachtung für den Menschen, aber Teilschuld und ein Lächeln für den Autor. (pb)
- Noch bis Samstag allabendlich in der Szene Wien, 11., Hauffg. 26, 749 33 41. 20.00
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